
Das Duo Santronic wurde von Arsalan Abedian und Ehsan Ebrahimi speziell für zwei Santure (das traditionelle persische Instrument) und Elektronik gegründet. Dieses Konzert widmet sich Tradition und Technologie, Analogem und Digitalem, Vergangenheit und Gegenwart. Präsentiert werden neue Werke, die eigens für das Duo Santronic komponiert wurden und sich mit den Spannungsfeldern zwischen Gewohnheit und Überschreitung, Ordnung und Chaos, Herkunft und Zukunft sowie Wurzel und Variante auseinandersetzen. Sie eröffnen eine Welt, die fremd anmutet und zugleich eine vertraute Resonanz in sich trägt.
Kioomars Musayyebi – Santur
Arsalan Abedian – Santur und Elektronik
Mehdi Kazerouni - Gousheh-e Mo’allaq - Neume suspendu (2024)
Die „Tradition“ – oder, genauer gesagt, die „traditionelle Mentalität“ – in der zeitgenössischen iranischen Gesellschaft ist ein Gebilde, das aus der Verschmelzung von Mystik (ʿerfān), der mythologischen Lesart des Schiitentums und der Logik des Basars hervorgegangen ist – drei grundlegenden Säulen, die die Instrumente zur Beurteilung der Qualitäten des sozialen Lebens formen. Diese Mentalität nimmt eine imaginäre Haltung des Widerstands gegenüber den der sozialen Existenz innewohnenden Komplexitäten ein, indem sie der Schönheit einen Charakter der Authentizität verleiht und der Kunst ein eigenes Wesen zuschreibt.
Sie bewahrt ihre emotionalen und geistigen Bindungen vor der Gefahr des Wandels – der als untrennbares Element des gesellschaftlichen Lebens wahrgenommen wird – indem sie Zuflucht in künstlichen symmetrischen Ordnungen sucht oder sich an sterilen Erzählungen über eine imaginäre und veränderte Vergangenheit klammert. Indem sie sich in der Lust ergeht, die aus der endlosen Rotation innerhalb von Gewohnheiten und sich wiederholenden Situationen entsteht, erträgt sie die Angst, die aus ihrer freiwilligen Unfähigkeit hervorgeht, sich der vielfältigen Realität und den der Gegenwart anhaftenden Komplexitäten zu stellen.
Diese Mentalität hat heute – ohne die Möglichkeit, sich aus der Gefangenschaft der Pseudo-Gedanken und der mit der Vergangenheit verbundenen mentalen Assoziationen zu befreien – auf nahezu wunderbare Weise eine neue Vitalität wiedererlangt: durch die Nachahmung der ästhetischen Aspekte der Fassaden und Symbole der reinen Technokratie und der neoliberalen Ökonomie. Sie hat sich in ein begehrenswertes Objekt auf dem Markt des Verkaufs von Gefühlen und Nostalgie verwandelt.
Eine Mentalität also, die – auf paradoxe Weise – tief in ihren Gewohnheiten und Denkmustern verwurzelt und abhängig bleibt, die sie aus der Stammes- und Religionskultur geerbt hat, und dennoch von einer neuen Form des sozialen Lebens träumt!
Die sogenannte „authentische“ iranische traditionelle Musik – und ihre erneuerten Formen in Gestalt von Popmusik oder postmodern angepassten Bastelarbeiten – bildet das Kristallisationszentrum dieser Mentalität.
Der Begriff gousheh in der Literatur der traditionellen iranischen Musik bezieht sich auf melodische Motive, deren Intervallstruktur den Modi angehört, die innerhalb des Klangsystems der iranischen Musik existieren – das heißt dem radif –, das als akustisches Substrat und Träger einer besonderen affektiven Ladung verstanden wird.
Aus zeitlicher und formaler Perspektive (in kleineren oder größeren Formen) bleiben sie mit der Zeitlichkeit der Sprache in der alten persischen Dichtung sowie mit einer religiösen Ästhetik verbunden.
Der traditionelle Musiker verfährt – durch die Umsetzung von mentalen Assoziationen und affektiven Deutungen, die aus den standardisierten Klischees der „Geschichte des Gefühls“ stammen – nach einem Ansatz, der vom Besonderen zum Allgemeinen führt, innerhalb der Regeln der Vokalmusik zu einer begrenzten Ausarbeitung des Klangmaterials des radif unter dem Titel gousheh.
Die Artikulation dieser gousheh – deren Motorprinzip und Achse in der Bildung zyklischer melodischer Strukturen und der Gesamtform von der Zeitlichkeit des Gedichts abhängen – steht in den meisten Fällen nicht in Beziehung zum semantischen Gehalt oder Sinn desselben; und die Musik manifestiert sich lediglich als Ornament, als klangliche Verzierung mystischer Dichtungen und poetischer Mentalität. Sie fungiert als klangliches Schmuckobjekt auf dem zeitgenössischen Markt nostalgischer Klischees – innerhalb jener Gruppen, die sich „reformistisch“ nennen und sozial oder mental an der Tradition, genauer gesagt: an der Verdrängung, festhalten!
Das Werk Gousheh-e Mo‘allaq (Schwebende Neume) und andere Stücke, die ich in den letzten drei Jahren für iranische Instrumente – insbesondere für die Santur – geschrieben habe, stellen den Versuch dar, sowohl das Klangmaterial und die emotionalen Klischees der Musik als auch die Mentalität der traditionellen iranischen Musiker und Komponisten zu kritisieren. Zugleich sind sie mein affektives wie rationales Statement – als Komponist und Bürger – gegenüber der Funktionsweise dieser Mentalitäten in der Bestimmung der qualitativen Koordinaten des sozialen Lebens im heutigen Iran.
Mehran Sherkat Naderi - Ich trenne mich von mir (2014-2016), fixed media
Ein menschlicher Charakter besteht aus verschiedenen Schichten, die miteinander verschmelzen und sie bilden zusammen unsere Persönlichkeit. Wenn man sich von sich trennt, kann man mit der Hilfe von diesem Abstand die Schichten bei Seite schieben, genau beobachten oder sich für immer von einigen verabschieden. Ein Blick über sich selbst. Was geschieht mit mir?
Ich trenne mich von mir.
Die ausgewählten Klänge stammen von einer Santur, einem Flügel und einer Stimmgabel aufgenommen.
Sie verschmelzen miteinander zu einem Gesamtklang und erklingen mal präsent und mal im Hintergrund. Mit einer zunehmenden Trennung der Klangschichten voneinander bleiben kaum Klänge übrig, und es entsteht letztendlich eine Leere. Eine verschärfte Beobachtung und genaues Hören auf Materialien. Der Charakter eines Menschen besteht gleichermaßen aus verschiedenen Schichten, die miteinander verschmelzen und zusammen die Persönlichkeit bilden. Wenn man sich von sich selbst trennt, kann man mit Hilfe dieses Abstands die Schichten beiseite schieben, genau beobachten oder sich für immer von einigen jener verabschieden. Ein Blick auf sich selbst. Was geschieht mit mir? Ich trenne mich von mir.
Joachim Heintz - memori (2021)
Erinnerung, lateinisch memoria, englisch memory. Memory ist ein Spiel, bei dem Bilder so lange angeschaut werden, bis zwei Bilder übereinstimmen. Dann werden sie weggenommen. Die Musik bewegt sich in Wellen. Jede Welle ist ein Zusammenklang; die Wellen zueinander bilden Verhältnisse aus — Entsprechungen und Abweichungen, in Dauer, Form, Figuration, Harmonik. Das ist der eine Raum; er bewegt sich in sich. Zu Ihm tritt ein anderer Raum. Erinnerung. Erinnerung ist hier und nicht hier. Sie passt nicht. Sie bleibt wo sie ist. Beinahe verkapselt.
Ich fragte Mehrnoosh Zolfaghari nach einem Kinderlied, das sie erinnere. Eines davon ist Arusak Jun. Diese Halbstrophe wird, extrem auseinandergezogen, in Einzeltönen gesungen:
delam mikhād (mein herz will)
tu khābe nāz (in einem schönen traum)
kabutar shi (dass eine taube sei)
arusak (die puppe)
Memory spricht man auf deutsch wie Memori. Lateinisch würde das soviel heissen wie: im Sich Erinnern, durch das Sich Erinnern. Die Räume treffen sich nicht, jedenfalls nicht hier. Solange die Unstimmigkeit bestehen bleibt, geht es weiter. Wenn die Bilder zusammentreffen, ist es zu Ende. Das Stück entstand für und in enger Zusammenarbeit mit Mehrnoosh Zolfaghari. Es wurde vom Goethe-Institut im Rahmen der "Virtuellen Partner-Residenzen" 2021 gefördert. Vielen Dank ebenfalls an Ehsan Ebrahimi für seine Hilfe.
Hendrik Rungelrath - Freischwimmer (2025)
Bei der Arbeit an Freischwimmer hat mich zunächst vor allem die Situation interessiert, die durch das Aufeinandertreffen von Santur und elektronischer Zuspielung entsteht: Die Verhältnisse von Vorder- und Hintergründen im Klang, die Kombination von instrumentaler Gestik und Lautsprechern – und der Raum, in dem die Erzeugung mancher Klänge direkt und deutlich sichtbar ist, während bei anderen Klängen eine Unsicherheit über ihre genaue Herkunft bleibt.
Die harmonische Organisation des Santur-Parts und eines Großteils der Zuspielung ist aus der Spektralanalyse eines Störsignals abgeleitet, nämlich des Summens eines Kabels. Dieser glitch wird mehrfach auch als solcher hörbar und verweist dann, nochmals, auf die Situation der Aufführung des Stücks und ihre technischen Bedingungen. Dazu kommen field recordings, die das im Aufführungsraum gespielte Instrument mit älteren Aufnahmen verschiedener anderer Räume verbinden.
Der Titel Freischwimmer bezieht sich entsprechend auf eine Bewegung in einem bestimmten Raum, einer bestimmten Situation, die mit einer bestimmten Geschwindigkeit und Gestik vor sich geht. Ob man dabei an die Bewegung der Santur durch den Klangraum der Zuspielung denkt, oder ob man die Klänge der Santur gewissermaßen als Punkte wahrnimmt, die wiederum einen Raum aufspannen, das bleibt dem Hören überlassen.
Arsalan Abedian - Ausgrabung (2025)
In Ausgrabung begeben sich zwei Santure und elektronische Klänge in die Schichten des Verborgenen. Resonanzen, Erinnerungen, Farben und Spuren werden dabei freigelegt, dokumentiert, analysiert und schließlich als akustische „Funde“ neu zusammengesetzt. Vergangenheit und Gegenwart, Akustisches und Elektronisches, verschmelzen zu einem vielschichtigen Konglomerat, in dem Spielen und Hören zum Akt des Entdeckens werden.
Kioomars Musayyebi (Santur), Arsalan Abedian (Santur, Elektronik)
Das Duo Santronic wurde 2015 anlässlich des Festivals Ankunft: Neue Musik im Berliner Hauptbahnhof gegründet. Es folgten weitere Auftritte, u. a. bei der Ausstellungseröffnung Digital Archives (Kunstverein Hannover), im Rahmen des Dastgah-Festivals (2016) zur Eröffnungsveranstaltung im Kommunalen Kino Hannover sowie im Kunstraum Tosterglope e.V. Weitere Konzerte gab das Duo im Projekt Basis Zwei (Faust, Warenannahme) sowie im Rahmen der Plattform für Transkulturelle Neue Musik 2016 (Folkwang Universität der Künste, Essen / 25.11., Musikforum Ruhr, Bochum). 2016 wirkte das Duo Santronic in Zusammenarbeit mit dem Ensemble Mixtura am Projekt Omaggio a Francesco – West-Eastern Reflections on Landini mit, das 2018 als Audio-CD beim Label Dreyer Gaido in Koproduktion mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) erschien.

Arsalan Abedian wurde in Teheran (Iran) geboren und erhielt seine erste musikalische Ausbildung auf der Santur, einem traditionellen persischen Instrument, bei Omid Sayareh. Sein Kompositionsstudium begann er in Teheran und setzte es an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover fort, wo er neben einem weiteren Masterabschluss auch das Konzertexamen der Soloklasse absolvierte. Zu seinen prägenden Lehrpersonen zählen unter anderem Joachim Heintz, Kiawasch Sahebnassagh, Oliver Schneller, Ming Tsao und Gordon Williamson.
Als Komponist, Veranstalter und Mitglied der Yarava Music Group ist Abedian seit vielen Jahren an einer Vielzahl von Konzerten, Projekten und künstlerischen Formaten der zeitgenössischen Musik beteiligt. In Teheran gründete er das Label Contemporary Music Records und war Mitinitiator des ersten Wettbewerbs für elektroakustische Musik im Iran, der Reza Korourian Awards, bei dem er auch als Jurymitglied und Herausgeber tätig war. Seine Werke wurden von namhaften Festivals und Ensembles in verschiedenen Ländern aufgeführt.
Abedians kompositorisches Schaffen umfasst Werke für unterschiedliche Besetzungen ebenso wie elektroakustische Musik und Klanginstallationen. In manchen Arbeiten basieren Materialwahl und Struktur auf numerischen Reihen, deren Kombinationen und Relationen klanglich umgesetzt und in kompositorische Parameter transformiert werden. Andere Stücke integrieren theatrale Elemente, neue Aufführungssituationen, räumliche Aspekte sowie Bewegungen der Interpret*innen. Einige Werke erkunden neue Klangfarben, indem sie traditionelle Instrumente mit unkonventionellen, teils absurden Spieltechniken und dadaistisch anmutenden Ausdrucksformen verbinden. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Arbeit mit Umgebungsgeräuschen, Alltags- und Objektklängen als kompositorischem Material, was insbesondere in seinen elektroakustischen Werken zum Tragen kommt. Inspiriert wird seine Musik zudem von moderner iranischer Literatur – etwa von Sadegh Hedayat – sowie von poetischen und literarischen Texten, unter anderem von Kurt Schwitters.

Hendrik Rungelrath studierte zunächst Theologie an den Universitäten Bonn und Salzburg. Anschließend studierte er Komposition bei Christian Ofenbauer und Tristan Murail am Mozarteum Salzburg sowie bei Elena Mendoza an der Universität der Künste Berlin.
Er war Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes und Preisträger bei Wettbewerben wie dem VarelerKompositionspreis 2015, dem Kompositionswettbewerb »New Music Generation« Kasachstan 2020 oder dem Kompositionswettbewerb »Over the rainbow« Wien 2021. Im Jahr 2020 promovierte er mit einer Dissertation über den italienischen Philosophen Giorgio Agamben und arbeitete von 2021 bis 2025 an einem Forschungsprojekt zu Traumthematiken in zeitgenössischer Musik an der Universität des Saarlandes Saarbrücken, wo er zudem seit Oktober 2025 lehrt.

Er wurde im Jahr 1977 in Teheran geboren. Beim bedeutenden Santurmeister Faramarz Payevar lernte er das Santurspielen. Von den Filmkomponistinnen Farhad Fakhreddini und Kambiz Roshanravan wurde er in Musiktheorie und Komposition unterrichtet. 2010 erlangte er den Bachelorgrad im Fach Instrumental Musik an der Teheran University of Art. Von 2013 bis 2015 absolvierte Kioomars Musayyebi an der Universität Hildesheim sein Masterstudium im Fach „Musik.Welt – kulturelle Diversität in der musikalischen Bildung“. Musayyebi ist international bei zahlreichen Festivals aufgetreten und hat mit vielen renommierten Orchestern und Ensembles zusammengearbeitet, unter anderem im Theaterkontext sowie mit Gastauftritten im klassischen Konzertbereich, etwa mit dem Royal Concertgebouw Orchestra in Amsterdam und dem Orchestre National de Bretagne in Rennes (2025). Bis heute arbeitet er als Dozent für Santur am Center for World Music (CWM) – Stiftung Universität Hildesheim.

Charakteristisch an Mehran Sherkat Naderis Musik ist die klare Verbindung und Darstellung gefärbter Materialien in den Strukturen. Er beschäftigt sich häufig mit philosophischen, politischen und gesellschaftlichen Fragen und setzt sich kritisch mit gesellschaftlichen Tabus auseinander – oft auf eine introvertierte, ironische und satirische Weise.
Er studierte erst Bachelor und Master of Music Instrumentale Komposition bei Jörg Birkenkötter, Elektronische Komposition bei Kilian Schwoon, Analyse Neue Musik bei Andreas Dohmen, Musiktheorie bei Andreas Gürsching und Hubert Moßburger an der HFK Bremen und anschließend Konzertexamen Komposition bei Johannes Schöllhorn in Freiburg.
Sherkat Naderis Musik wird in Deutschland und im Ausland gespielt und wurde von Edition DEGEM, Edition Gravis und vom Jugendsinfonieorchester Bremer-Mitte veröffentlicht.
Zu seinen Auszeichnungen zählen u.a. der DAAD-Preis der Hfk Bremen, der Bremer Komponistenpreis vom Landesmusikrat Bremen, sowie der 1. Preis beim 22. Internationalen Kompositionswettbewerb (Weimarer Frühjahrstage für zeitgenössische Musik). Er war Stipendiat der Dr.-Leo-Ricker-Stiftung, der Adelhausenstiftung und der Deutschen Orchester-Stiftung sowie GEMA.
Nach verschiedenen Tätigkeiten als Gastdozent für Zeitgenössische Musik an Allgemeinen Schulen war er festangestellter Dozent an der JMS Hamburg. Heute lebt Mehran Sherkat Naderi in Berlin und arbeitet als Dozent und Koordinator für Komposition, Musiktheorie an der Musikschule Fanny Hensel, Dozent für das Fach „Komponieren für die Schule“ an der Hochschule für Musik und Theater Rostock. und als freiberuflicher Komponist.

Mehdi Kazerouni (1981 – Schiraz, Iran) ist Pianist und Komponist. Er lebt und arbeitet derzeit in der Stadt Kaschan, Iran.